STÄRKEN, ENTWICKELN, ERMÖGLICHEN, VERTIEFEN

Geschrieben von: Prof. Dr. Julia Kiesler Prof. Frank Schubert

Über meine Arbeit innerhalb des Talentförderprogramms am Gymnasium Hofwil (Bern/Schweiz) im Bereich Theater.

Frank Schubert

„Ich will auf der Bühne die 7 Todsünden begehen und es so richtig geniessen: Lasst uns fressen, saufen, schreien, weinen, rumstolzieren, streiten, dahindösen, liebkosen, rumknutschen! Lasst uns zeigen, wie wild das Leben in Sünde sein kann!“ 

(Anna, Gymnasiastin)

 

Zum Jung-Sein gehört nicht nur die Suche nach der eigenen Identität, dazu gehört auch die Lust am expressiven Ausdruck, die Lust am Austesten von möglichst provokativen Standpunkten, der Drang sich durchzusetzen, eigene Geschichten nicht nur  zu finden, sondern auch zu erzählen. Junge Menschen, die auf die Bühne wollen, wollen sich an der Welt reiben. Und natürlich wollen sie die Wirkung sofort überprüfen.

Was ich zu sagen habe, ist einzigartig!

Die Bühne ist ein Raum, in dem wir alles, aber auch alles durchleben, erleiden, geniessen und ausprobieren können. Straffrei! In der Regel wird niemand verletzt und keine Erfahrung hat irreparable Folgen. Wir müssen uns nur aufeinander und auf ein Thema einlassen und das Experiment kann beginnen. 

Alle haben eigene Geschichten. Das Problem ist offensichtlich, dass diese Geschichten oft nicht als wichtig empfunden werden. Ich höre oft: Ich lebe ganz normal. Es passiert in meinem Leben nichts Besonderes. Fragen wir nach, kommen sehr schnell und ohne lange nachzudenken gleich mehrere sehr interessante Geschichte ans Tageslicht. Das alles bringen die jungen Leute mit. Sie haben den kreativen Rucksack längst gepackt, sie wissen es aber noch nicht. Und bewusst wird es nur denjenigen, die auch die Lust haben, im eigenen Rucksack zu wühlen. Dies wäre der erste Schritt.

Zur Basis gehören zuerst offene Sinne, Neugierde und die Fähigkeit sich zu wundern und zu staunen.

Theater wird normalerweise nicht von Kindesbeinen an über Jahre kontinuierlich trainiert, wie es mit einem Instrument oder auch im Tanz geschieht. Es wird eventuell in der Schule etwas Theater gespielt, es wird selten genug ins Theater gegangen. Das muss für eine mögliche Entwicklung hin zum Theater aber kein Problem sein. Manchmal ist es sogar kontraproduktiv, die oft sehr starren Theatervorstellungen aus der Laienarbeit mit in eine professionelle Ausbildung zu nehmen. Die besten Voraussetzungen für Theaterarbeit sind offene Sinne, ein starker Mitteilungswille, Neugierde und die Fähigkeit sich zu wundern und zu staunen. Wenn wir uns auf die Suche nach Talenten begeben, dann suchen wir bei den jungen Leuten nach einem möglichst starken Ausdruckwillen, der Lust an der Veröffentlichung von Geschichten und Gefühlen. Wir suchen junge Leute, die das Bedürfnis haben, eigene Geschichten zu finden und zu erzählen. Wir suchen junge Menschen, mit einer grossen Lust am Widerspruch und dem Drang, offensiv mit den wahrgenommenen Widersprüchen umzugehen. Wenn ich auf interessierte junge Leute treffe, höre ich meist zuerst viel aus dem Schulstoff. Grosse Geschichten, wichtige Geschichten, historisch bedeutsame Geschichten. Die eigenen Geschichten verblassen vor dieser Folie und viel zu selten werden die übergrossen (Schul)Stoffe zur Diskussion gestellt, hinterfragt und für Interpretationen ausserhalb der festgeschriebenen Deutungshoheit der Lehrbücher freigegeben. Die Autoren oder Autorinnen werden nicht als Verhandlungspartner begriffen. Dabei ist im Theater der Autor ein direkter Partner wie eine Schauspielkollegin, ein Musiker oder eine Bühnenbildnerin. Er ist Teil des Teams. Und mit einem Teammitglied diskutiert man, man streitet, liebt sich und kommt gemeinsam zu neuen Ergebnissen. Im besten Fall sind dies Ergebnisse, die vor Arbeitsbeginn niemand erahnen konnte. Dabei ist es unerheblich, ob die Autorin anwesend ist oder nicht, ob sie noch lebt oder nicht. Durch ihr Werk ist sie immer anwesend. Nicht nur für die Theaterarbeit muss dieses offene Verhältnis zum Material oft erst wieder mühselig erstritten werden. Ein solches Denken ist eine Grundlage für kreatives Handeln in jedem Bereich unseres Lebens. 

Die moderne Arbeitswelt besteht aus den unterschiedlichsten Bühnen.

Talentförderung für das Theater muss nicht unbedingt zum Theater führen. Die Arbeit führt aber ganz sicher zu einer besseren Präsenz im Auftritt. Es wird das Selbstbewusstsein und die Ausdrucksfähigkeit gestärkt und die Team- und Kommunikationsfähigkeit nachhaltig entwickelt. Jedem wird klar, dass man mit einer Rolle, mit einem Text oder einer anderen Aufgabe, auch die Verantwortung für das gesamte Projekt mit übernimmt. Wer sich mit Theater beschäftigt, muss sich sowohl mit sich selbst als auch mit der Welt auseinandersetzen. Wer sich bewusst dieser Auseinandersetzung stellt, erlebt sich als Menschen, der aktiv gestaltend wirken kann. Und die Welt wird als veränderbar empfunden. Das alles sind wesentliche Aspekte der Talentförderung. Alle werden am Ende profitieren. Auch wenn nicht ein Theaterberuf ergriffen wird. Das Alter unserer Gymnasiastinnen und Gymnasiasten ist ein unglaublich spannendes Alter. Hier explodiert gewissermassen die Persönlichkeit und jedes Jahr bringt grosse Veränderungen mit sich. Die Arbeit mit Mitteln und Methoden aus der Schauspielausbildung ist vor allem deshalb so überaus hilfreich, weil sie grundsätzlich erlebnisbasiert die Persönlichkeit nachhaltig entwickeln hilft, die Teamfähigkeit stärkt und nicht nur den Mut für einen selbstbewussten Auftritt schenkt, sondern zur Lust macht. 

Durch die Mühen der Ebene zur Lust am Aufstieg.

Für uns bedeutet Talentförderung zuerst einmal Themen, Stoffe und Geschichten zu finden. Und dafür muss jeder einzelne Spieler und jede Spielerin auch langfristig brennen können. Das ist die angestrebte Voraussetzung für die Theaterarbeit. In der Probenarbeit entsteht dann die Frage nach dem WIE. Wie mache ich es, um eine angestrebte Wirkung zu erzielen? Was muss ich tun, damit die Bilder in den Köpfen der Zuschauer entstehen, die ich auslösen möchte? Wie mache ich es, dass die inneren Prozesse sichtbar werden? Wie schaffe ich es, dass leise und intime Texte auch in der letzten Reihe verstanden werden? Auf dem Weg zu einem Ergebnis werden dann die notwendigen handwerklichen Fähigkeiten trainiert. Allerdings in noch sehr bescheidenem Rahmen, denn für eine professionelle Ausbildung müssen die Studierenden über Jahre täglich unterrichtet werden, üben und trainieren. Die Mühen der Ebene, wie es Brecht beschrieb, bleiben unseren „Kids“ noch erspart. Aber sie erleben den dialektischen Zusammenhang von Wollen und Können, von angestrebter inhaltlicher Absicht und den dafür notwendigen handwerklichen Fähigkeiten. 

DEN RAUM MIT EROS FÜLLEN

„... es braucht die Momente des Loslassens, des Geniessens und der grenzenlosen Freude, und es gibt sie auch. Ich würde gerne dem Publikum alle anderen Gedanken aus dem Kopf ziehen und ein Gefühl von Freiheit und Freude erzeugen, bei jedem einzelnen Zuschauer. Ihnen einen Moment des Aufatmens im strengen Alltag genehmigen. Ich will den ganzen Raum mit EROS ausfüllen. Mit Liebe und Lust am Leben! Mit Genuss und Glück.“ (Anna, Gymnasiastin) 

Erleben wir eine solche Aussage von einer Gymnasiastin, dann treffen wir auf eine Haltung, die wir uns von allen wünschen, die es danach drängt, Menschen für eine Idee, eine Geschichte oder für eine Aufgabe zu entzünden. Diese Kraft macht Lust auf Talentförderung, diese Kraft wird diese Gymnasiastin eventuell auch über ihre Ausbildungszeit hinaustragen und vielleicht kann sie einen Teil dieser Kraft auf ihr Publikum übertragen, auch wenn dieses nicht zwingend in einem Theaterraum sitzt.



1Das Gymnasium Hofwil nahe Bern in der Schweiz praktiziert seit über 20 Jahren ein herausragendes Talentförderprogramm in den Bereichen der Bildenden Kunst, der Musik (Jazz und Klassik), des Theaters und des Sports. Die Arbeit basiert auf einer engen Zusammenarbeit mit der Hochschule der Künste Bern HKB und Swiss Olympic.

Siehe auch unter: https://www.gymhofwil.ch/talentfoerderung und https://www.gymhofwil.ch

 

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