FASSUNGSLOS, NICHT HALTLOS
Geschrieben von: Prof. Dr. Julia Kiesler Prof. Frank Schubert
Dieser Text ist ein Nachdenken über längst Vergangenes. Über alte Erfolge kräht kein Hahn mehr. Lohnt es also, darüber zu schreiben? Warum eine Rückschau? Im Nachdenken war ich erstaunt, wie organisch sich eine Arbeitsweise entwickelte, die wir heute "kollektiv" nennen. Und es wurde mir klar, wie eng Arbeitsweisen mit dem gesellschaftlichen Umfeld zu tun haben, in denen sie sich durchsetzen. Das ist der Gedanke, der mich für die Gegenwart interessiert. Darum dieser kleine Text.
Uns geschah es. Es geschah, weil es uns um Qualität ging, nicht um Selbstverwirklichung und weil gemeinsamer Erfolg einfach mehr Spass macht.
Frank Schubert
DAS THEATER ALS LUSTGELADENER DISKUSSIONSRAUM
Es gab eine Zeit, da waren wir wilde Hirsche und wollten sämtliche Mauern einreissen. Es war so einfach in den 80igern. Als ich in meiner Ausbildung steckte, war die Welt klar aufgeteilt. Es gab den Osten und den Westen. Ich wusste sehr genau warum ich Theater machen wollte. Theater bot eine subversive Plattform und der Feind war klar definiert. Vieles musste verschlüsselt erzählt werden und das war die Chance für interessante Formen, Strukturen und überraschende Mittel. Die Leute holten sich den Treibstoff für ihre politisch denkenden Köpfe in der Kunst, also auch im Theater. So waren die Spielstätten in der Regel voll und ich konnte mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass auch das gut gekleidete Ehepaar neben mir politisch ebenso gepolt war wie ich.
Ich konnte mit dem statt-theater FASSUNGSLOS diese verbindende Energie zwischen «oben» und «unten» geradezu körperlich spüren und im Schauspielhaus Dresden oder im Nationaltheater Weimar war es meist nicht anders. Es gab unterschiedliche Meinungen, aber keine geteilten Fronten. Die Leute genossen die Kraft, die Theater als kollektives Ereignis spenden konnte. Für kurze Zeit konnte man der Faust in der Tasche frische Luft geben. Es dauerte eine ganze Weile, aber irgendwann steckten die Leute die Faust beim Verlassen des Theaters nicht mehr in die Tasche zurück. Das sollte dann zu einem sehr überraschenden Aufbruch werden. Es war die Kraft der Gruppe, die so viel Energie in jedem von uns freisetzte. Wir bewegten uns.
Eine Mauer fiel 1989, aber wir rissen mit dieser auch Mauern in uns selbst ein. Und das waren nicht weniger bedeutsame Umbrüche. Wir suchten auch im neuen Westen Menschen, deren Äusserungen sich nicht in starren Statements erschöpften und erlebten, dass sich Menschen mit den Mitteln des Theaters noch immer bewegen liessen. Die Werkzeuge des Theaters befähigten uns, den Theaterraum auch nach 89 zu einem lustgeladenen Diskussionsraum zu machen. Ideen und Meinungen gerieten in Reibung, durften wachsen, oder zerschellen, um zu neuen Plänen zu reifen oder auch schlicht im Papierkorb zu landen. Ein solcher Prozess kann nur produktiv werden, wenn Menschen auf Augenhöhe frei und selbstbewusst miteinander kommunizieren. In diesem Prozess kreierten wir nichts weniger als unsere Variante einer hierarchiefreien aber nicht ungeleiteten Arbeitsweise in der künstlerischen Produktion. Fast nebenbei.
DER ANFANG. ALLES ERGAB EINE EXPLOSIVE MELANGE.
Schon während meiner Anfänge am Staatsschauspiel Dresden, gründete ich unsere Theaterkompanie. Das Ziel war nicht der künstlerische Erfolg und neue Arbeitsstrukturen waren nur am Rande interessant. Ich sah mich nie als sich selbst verwirklichender Künstler. Diese Attitüde fand ich grundsätzlich albern. Ich habe mir zu DDR-Zeiten aus politischen Gründen meine Bühnen gesucht und wenn ich gegen die staatlich verordnete Gesellschaftsphilosophie als Bäcker hätte mehr tun können, wäre ich Bäcker geworden. Da bin ich sicher.
Das gemeinsame Ziel war in uns längst verankert. Wir wollten ganz bewusst gegen das totalitäre Denken im DDR-Staat lustvoll Sturm laufen. Es musste einen Weg geben, dieser Gesellschaft wahrhaftig zu begegnen und gleichzeigt ungeschoren davonzukommen. Wir suchten den Weg ins Absurde. Die bissigste Form der künstlerischen Verschlüsselung, um das zu sagen zu können was gesagt werden musste, war gerade gut genug. Wir wollten uns freilachen. Alles ergab eine mitunter explosive Melange. Im statt-theater FASSUNGSLOS trafen Profis aus dem Tanzbereich, der Musik und dem Schauspiel aufeinander und sie alle unterschieden sich teils grundlegend in ihren Arbeitsweisen. Dazu kamen Light-Designer, Kreative aus der Technik und den Bereichen Kostüm und Maske. Menschen, die einfach dabei sein wollten, weil sie spürten, dass sich zusammen etwas bewegen lies. Es waren Menschen mit einem eigenen Kopf und sie gehörten zu den Besten ihrer Zunft. In dieser Gruppe trafen Individualitäten mit unterschiedlichen Erfahrungen, Sehnsüchten, Wünschen und sehr unterschiedlichen Bildungswegen aufeinander. Aber alle fanden sich in einem gemeinsamen Ziel, dem jeweils nächsten Projekt und schauten eigenständig aus ihrer jeweiligen Perspektive auf den Gegenstand des Interesses. Der Probenraum wurde, wie das Theater selbst, als Forum der Auseinandersetzung verstanden, als Ort der kollektiven Debatte um die beste Lösung für die selbstgestellte Aufgabe.
Die Mauer fiel und unsere Weichen waren gestellt. Arbeitsweisen waren verankert, wir hatten uns auch überregional einen Namen gemacht und die Möglichkeiten der "neuen Welt" führten zu einer Stabilisierung unserer Arbeitsweise. Wir konnten andere und nicht zuletzt uns selbst immer wieder überraschen, egal ob es um Projektentwicklungen, die Arbeit an Stückvorlagen oder um Film- und Hörspielarbeiten ging, bei denen eine Effizienz in der Arbeit verlangt wurde, die nicht nur Spass macht. Die Ergebnisse waren gut, solange das Team im Miteinander funktionierte. Und das war vor allem in Projekten der Fall, mit denen wir etwas herausfinden wollten, was wir noch nicht wussten.
FREI VON HIRARCHIE BEDEUTET NICHT UNGEFÜHRT
Nach wie vor trafen in unserem Probenraum die verschiedensten Menschen aus unterschiedlichen Kunstgattungen aufeinander. Diversität wurde auf allen Ebenen als Lust und Triebkraft erlebt. Unterschiedliche individuelle Arbeitsweisen fanden nicht immer problemlos zusammen, aber wir stellten einander nie infrage, sondern suchten den interessantesten Ansatz aus der Reibung, fanden durch Perspektivwechsel neue Ideen, Unverhofftes mitunter in Momenten der Sprachlosigkeit oder im scheinbar haltlosen Chaos, einen gemeinsamen Weg zum Ziel. Man muss das aushalten können.
Wir schätzten und akzeptierten uns zuerst in unseren jeweiligen Kompetenzen. Das verteilte die Last der Verantwortung und Entscheidungsprozesse versandeten nicht in der Schwammigkeit eines falsch verstandenen Begriffs von «kollektiver Führung», in dem sich alle für alles verantwortlich zu fühlen haben.
Der Schlüssel für das Gelingen war die Konzentration auf die gemeinsamen Inhalte. Wir taten, was wir «wirklich, wirklich wollten», wie es Frithjof Bergmann ausdrückte. Da durfte es auch mal knallen, ohne dass alles gleich auseinander fliegt.
DAS RINGEN UM KOLLEKTIVE ARBEITSWEISEN
Heute sind diese Arbeitsweisen mitunter auch im institutionellen Theater angekommen. In der Arbeit mit dem Theaterregisseur Kay Voges1 treffen bereits in der ersten Probe die Darsteller auf die beteiligten Medienkünstler, Musiker und Tonspezialisten. Ist das nicht zu organisieren, beginnt Voges gar nicht mit der Arbeit. Alle sind gleichermassen an jeder einzelnen Probe beteiligt. Er lässt sie frei aufeinandertreffen, oft ohne Vorgaben und konkrete Zielsetzungen. Ganz sicher sind auch die Aufführungsergebnisse in Inhalt, Form und Struktur untrennbar mit dieser Vorgehensweise verknüpft. Dabei geht es nicht vornehmlich um demokratische Strukturen in den Arbeitsprozessen. Es geht nicht um ein politisches Ideal. Es geht um eine Unverwechselbarkeit in Inhalt und Ästhetik. Es ist eine Frage der Qualität. Sie ist von den unterschiedlichen Stärken und Schwächen, Kompetenzen und Fragen der jeweiligen Beteiligten geprägt. Die unterschiedlichsten Perspektiven auf einen Gegenstand finden zueinander, verschiedene Zugänge suchen einen gemeinsamen Weg. Der Blick der unterschiedlichen Beteiligten auf die Realität, ihr spezifisches Wissen und ihre Erfahrungen können zu einer unverwechselbaren Qualität beitragen. Sinn und Ziel ist nicht die Aufhebung von Hierarchien, oder die Suche nach immer neuen Arbeitsweisen und doch verändern sich diese im Prozess fundamental. In diesem Beispiel zeigen sich schon relativ konsequent Arbeitsprinzipien des New Work.
Auch an der Hochschule der Künste in Bern hat das Nachdenken über kollektive Arbeitsweisen Einzug gehalten. Andere Inhalte als gewohnt finden den Weg auf die Bühnen, andere Mittel entwickeln sich und die Probenmethodik verändert sich in Abhängigkeit von den einzelnen Beteiligten, also von der Zusammensetzung des Teams. Es gehört zur Natur der Sache, dass die Vermittlung kollektiver Arbeitsweisen schwierig ist. Es gibt kein universales Rezept. Teams setzen sich einer Aufgabenstellung entsprechend immer wieder neu zusammen. Die Leute sollten also in der Lage sein, flexibel zu agieren. Die Voraussetzung ist, tatsächlich kommunizieren zu können. Mit einer hohen Qualität der Kommunikation wächst der Output an Ideen, die Motivation verbessert sich und mit ihr die Bereitschaft zur Selbstorganisation. Verschiedenes Wissen multipliziert sich im Idealfall zu neuen Lösungen.
Offensichtlich ist allerdings auch, wenn die Kommunikation innerhalb der Teams nicht funktioniert, sind Koordinationsverluste schnell an der Tagesordnung, die negative Ausstrahlung eines Teammitgliedes zieht auch andere runter, Konkurrenz wirkt nicht belebend, sondern führt zu Konflikten.
Damit Negativerfahrungen minimiert werden, können wir an den notwendigen Voraussetzungen, wie einer empathischen Wahrnehmung oder der Fähigkeit zu Perspektivwechseln, arbeiten. Um so besser die einzelnen Teammitglieder in der Lage sind, miteinander zu kommunizieren, um so produktiver und effektiver wird ein Team arbeiten können.
Und immer wieder ist es die Fähigkeit, die Sinnhaftigkeit der eigenen Arbeit nicht nur zu definieren, sondern zu empfinden, die Freude an der Arbeit aufkommen lässt. Sie macht uns nicht zuletzt auch kreativ. L’art pour l’art war nie meine Maxime. Die Kunst darf nicht nur sich selbst genügen. Und was für die Kunst gilt, gilt für andere Bereiche schon lange. Mich interessierten immer Inhalte mit der Potenz, diese Welt ein wenig besser zu machen. Da wird Arbeit zur Lust, Leistung ein Bedürfnis und Qualität zu einer Selbstbelohnung.
WEIL ERFOLG EINFACH GUT FÜR DIE SEELE IST
Beim statt-theater FASSUNGSLOS ging es während der Entwicklungs- und Probenphasen niemandem um Selbstprofilierung, aber am Ende hatten wir uns alle profiliert. Die Zeit war einfach reif, um Hierarchien in der Theaterarbeit vergessen zu können. In unserem Bewusstsein war dieser Aspekt keine Leistung. Wir arbeiteten, um zu guten Ergebnissen zu kommen und uns erschien diese Arbeitsweise als die einzig mögliche. Wir hatten damit Erfolg und das tat einfach gut.
Irgendwann gastierten wir mit einer unserer Arbeiten nach Texten von Ernst Jandl einige Wochen in Wien. «Das Röcheln der Mona Lisa» war zu der Zeit unser Flakschiff im Repertoire. Der grösste Respekt vor dem Dichter, einem ausgewiesenen Klassiker der Moderne, hinderte uns nicht daran, seine Texte lustvoll durch den Fassungslos-Mixer zu jagen. Wir eigneten uns das Material schamlos an, machten es zum Teil unserer Auseinandersetzungen. Ein solcher Umgang mit seinen Texten musste einem Dichter nicht unbedingt gefallen. Es kam wie es in einer Stadt wie Wien kommen musste, der Meister erschien inmitten seiner Entourage. Wie sein Urteil ausfallen würde, war völlig offen. Doch am Ende stand er mit uns vor einem stehenden Publikum und murmelte uns in seiner unnachahmlichen Weise immer wieder ein «I love you» zu.
1Kay Voges, deutscher Theater- und Opernregisseur, von 2010 – 2020 Intendant des Schauspiel Dortmund, seit 2020 regieführender Direktor am Volkstheater Wien